Vom Mut es zu begreifen

Abschied nehmen am offenen Sarg

Wie oft hören wir diesen Satz als gut gemeinten Rat: Ach, behalte ihn doch lieber so in Erinnerung, wie er war. Wohlmeinende Menschen wollen Angehörige davor schützen, einen verstorbenen geliebten Menschen anzusehen.

Dabei können Abschiednahmen am offenen Sarg so gute, wertvolle Momente sein. Die Kollegen im Abschiedshaus in der Türlenstraße beobachten es immer wieder: Voller Anspannung gehen Angehörige auf den Aufbahrungsraum zu. Sie atmen an der Tür noch einmal tief durch, sammeln ihren ganzen Mut. Dann wagen sie den Schritt nach innen.

Es ist kein leichter Weg. Aber es ist ein wichtiger und meist ein guter.

Das kann man in den Gesichtern lesen, wenn die Angehörigen nach einer Weile wieder aus dem Raum kommen: Erleichterung. Entspannung. Gewissheit. Und oftmals Dankbarkeit. Sehr viel Dankbarkeit. Und natürlich auch Tränen und Schmerz.

„Mei, is des schee!“, sagte die 96-Jährige, als sie ihren 74-jährigen Sohn im Sarg sah. „Is des schee! Dass ich dich nochmal sehen darf.“ Dann ging sie ganz nah zum ihm hin und flüsterte ihm ins Ohr: „Bald, bald komm ich zu dir.“

Mit 96, da darf man das sagen! Ganz so gelöst gehen nicht viele Angehörige mit dem Anblick ihrer Verstorbenen um. Aber viele berichten, dass es ihnen gut getan hat. Dass sie jetzt wüssten, dass es dem Toten gut geht. Viele sagen, dass der Verstorbene schon lange nicht mehr so entspannt ausgesehen hat. Oftmals sagen Angehörige, dass sie sich jetzt ganz friedlich fühlen.

Das ist natürlich nicht immer so. Wenn der Verstorbene schön aussieht, ist das gut, aber es ist nicht das Wesentliche.

Es macht den Tod wirklich und erklärt der eigenen Seele, warum jemand nicht mehr da ist.

Es kann vorkommen, dass es denjenigen, die den Toten gesehen haben, in den ersten Tagen schlechter geht als denjenigen, die es nicht getan haben. Denn dieser Anblick greift in die Arbeit des Bewusstmachens ein. Das ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Trauer. Ein Schritt, der sonst später genommen werden muss.

Und ja, das letzte Bild haftet oft noch eine ganze Weile im Kopf. Aber mit der Zeit reiht es sich ein in all die anderen Erinnerungen und wird eine vielen. Eine, die eben auch dazugehört.

Den Toten noch einmal zu sehen schafft eine Möglichkeit, seinen eigenen Abschied zu nehmen. Man kann ganz bewusst noch einmal die Verbindung zum anderen spüren und halten – oder lösen. Und man kann einen Moment, einen letzten Moment der Übereinstimmung spüren.

Übereinstimmung zu finden ist – neben den ästhetischen Aspekten – tatsächlich auch ein weiterer Grund dafür, warum bei einem Verstorbenen Mund und Augen geschlossen, die Hände gefaltet werden. Damit sagen wir: Ja, du kannst nicht mehr sehen, darum schließen wir deine Augen. Ja, du kannst nicht mehr sprechen, darum schließen wir deinen Mund. Ja, du kannst nicht mehr handeln, darum falten wir deine Hände.

Leider gibt es nur sehr wenige wissenschaftliche Studien zu diesem Thema. Es ist schwer, große Gruppen von Trauernden zu befragen. Immerhin gibt es eine Anzahl kleinerer internationaler Studien. Wenn man diese zu einem Bild zusammenfügt, zeigt sich: Ungefähr 50 Prozent derer, die einen Verstorbenen nicht mehr gesehen haben, bedauern dies später. Dem gegenüber stehen ungefähr 10 Prozent derer, die den Verstorbenen noch gesehen haben, dies aber im Nachhinein eher bereuen.

Um diese Zahlen zu verstehen, muss man aber wissen: Jene Studie hatte auch das unfreiwillige Sehen eines Verstorben mit einbezogen, also beispielsweise die Situation, dass der Befragte den Toten selbst aufgefunden hat. Ebenfalls enthalten sind diejenigen, die den Toten gern sehen wollten, aber nicht konnten. Schwierig wurde es laut der Studien vor allem dann, wenn man Angehörigen verwehrte, den Toten noch einmal zu sehen – aus ästhetischen, logistischen oder auch ermittlungstechnischen Gründen oder weil es im Familienkreis als nicht akzeptabel galt.
In den weiteren Nachfragen zeigt sich dann ein eindeutiges Bild: Wichtig ist, dass jede und jeder die Entscheidung selbst fällen kann, einen Verstorbenen nochmals zu sehen oder nicht. Dass einem niemand das Recht nimmt und auch niemand versucht, einen Trauernden zum einen oder anderen zu überreden. Hilfreich ist es außerdem, wenn der Anblick eines Toten nicht überraschend kommt.

und auch dass Sie sich klar darüber sind, warum Sie so entscheiden. Oft spielt die Vorstellung, was einem da jetzt begegnet, eine Rolle. Auch Angst ist manchmal ein Thema. In unserer Gesellschaft haben wir wenige positive Bilder von Toten. Die meisten inneren Bilder sind unangenehm: Wir sehen sie am Abend im Fernsehen, es sind oft Opfer von Gewalt, entstellte Menschen. Selten sehen wir friedliche Verstorbene. Selten erleben wir den Tod als etwas Natürliches.

Und natürlich will man einen geliebten Menschen nicht mit den eher schwierigen Bildern in Verbindung bringen. Lieber ihn so in Erinnerung behalten, wie er war. Als ob dieses eine Bild alle anderen alten, schöne Bilder zerstören könnte.

Aber vielleicht ist es ein Trugschluss, auf diese Weise auf die lebendigen Erinnerungen zu setzen. Denn einen lebendigen Menschen kann man nur schwer begraben.